Wenn ich mich durch Youtube-Playlisten klicke, habe ich, obwohl die Plattform als Medium noch gar nicht so alt ist, oft das Gefühl: “Das haste so, oder so ähnlich alles schon mal gesehen”. Für das Internet mag die von Google aufgekaufte Videoplattform bereits ein Urgestein sein, dennoch vermögen es heute nur noch die wenigsten Videos, mich zu überraschen und nicht mit einem Gefühl zu hinterlassen, wieder die Kopie einer Kopie zu sehen. Gestern war einer der Momente, wo ein Video eine Faszination auslösen kann, die noch über Tage anhalten kann. Dass vor nicht mal einen Tag von der schwedischen Künstlergruppe Wintergatan hochgeladene Video einer selbstgebauten Murmel-Musik-Maschine sprengte innerhalb von 21 Stunden nach dem Upload die Millionenmarke.
Wenn Martin Molin, der Kopf der Band, zur Maschine ins steril gehaltene Bild tritt, noch sein Kopfhörerkabel nachzieht und schließlich über eine Kurbel das angeschlossene Schwungrad in Bewegung versetzt, klappert die ganze Konstruktion. Die von Molin gebaute Maschine wirkt dabei wie eine Mischung aus Flipperautomat und dem Schaufelrad eines Dampfers. Die aus Holz gefertigten Zahnräder setzen sich in Bewegung und rund 2000 Murmeln rollen durch das Labyrinth. Zwar verlassen manche von ihnen gelegentlich auch mal die Spur, was die Faszination über die Symbiose aus Handwerk, Technologie und analogen Instrumenten nicht schmälert. Die akustischen Elemente wurden mit feinster Mikrofonierung aufgenommen. Denn ohne diese scheppert die Maschine schon ganz ordentlich, was man in den Videos, die die Gruppe Wintergatan in der Bauphase zuvor veröffentlicht hatte auch hören kann. Der Musiker hatte für die Planung und Konstruktion gerade mal 14 Monate gebraucht. Wintergatan machte sich bereits vorher mit ungewöhnlichen und selbstgebauten Instrumenten einen Namen. Manchmal auch, verwendet sie Alltagsgegenstände oder ausrangierte Technologie wie einen Diaprojektor, um einen Rhythmus zu generieren.
Die Marble-Machine sprengt jedoch ist außergewöhnlich und sprengt alles, was die Band bisher geboten hatte. Der Eindruck aus wunderbar eingängiger Melodie und einem gekonntem Beat, der sich – wie die fallenden Murmeln auf das Xylophon – genauso ins Ohr hämmert, gepaart mit einer Handwerks- und Ingenieurskunst, welche Freunden des Steampunk-Genre wahrscheinlich die Tränen in die Augen treibt, ist in dieser Kombination selten zu finden. Kein Wunder also, dass ich, kaum hatte ich das Video zu ende gesehen, meinem halben Freundeskreis mit dem Link dazu auf die Nerven ging.
Internet-Memories und Computerkunst
Aber an etwas erinnerte mich diese Konstruktion dann doch. Es war vermutlich eines der ersten Videos, dass vollständig mittels Computergrafiken animiert wurde und ich damals im Internet, lange vor dem aufkommen von Youtube gesehen hatte. Hier spielten Murmeln die Musik sowie die Hauptrolle. Der CG-Artist dahinter war Wayne Lytle. Er ist kein Rapper, auch wenn das sein Name vermuten lässt, sondern Experte für 3D-Animationen. Er gründete Animusic und produzierte, neben vielen Beiträgen zur Siggraph – eine der weltweit größten Konferenzen für CG (Computergrafiken) – auch das Musikvideo “Pipe Dream”, bei dem animierte Murmeln eine Vielzahl an Instrumenten in Schwingung versetzten.
Die Ästhetik einer verwirrenden Apparatur, die scheinbar Autonom zur Musik fähig ist, existiert vermutlich seit der ersten Drehorgel. Auch andere Künstler haben den Mix aus undurchsichtiger Technologie und Klangbilder bereits aufgegriffen. Im Musikvideo zu Aphex Twins Monkey-Drummer verzerrte der Videokünstler Chris Cunningham die elektronischen Beats visuell zu einem technologischen Gruselbild und gab ihnen sogar ein (Affen-)Gesicht. Die dabei fest stehende Kamera, die nur aus einer Position filmte, verstärkt die Unheimlichkeit, die bei einem – von jeglichen menschlichen Einfluss losgelösten – autonomen Prozess ausgehen kann.
Das Zusammenspiel aus Technologie und Musik bei jede Bewegung und jede Schwingung nicht nur die Ursache sondern auch eine optische Rückmeldung darstellt, perfektionierte die Gruppe Autechre in ihrem Musikvideo Gantz Graf. Hier sollte jeder einzelne Ton, ja jede Sinuswelle des Stücks ein optisches Äquivalent eines sich bewegenden Musters erhalten.
Music is the key
Weg von animierten, zurück zu realen Kunstwerken. Die Faszination für komplexe Murmelbahnen, bestückt mit allerlei Mechaniken, wie als Beispiel die vielgeklickte Lego-Murmelbahn, waren die Inspiration für Molins Langzeitprojekt. In einem Interview des britischen Magazins Wired sagte er: “I stumbled over the marble machine culture — it’s a whole subculture — and was always interested in gears, and the future of gears…”. Wer sich jetzt fragt, ob Wintergatans Murmelschleuder vielleicht auf Tour gehen wird. Sie hatten bereits Probleme, die Maschine für das Musikvideo in ein Studio zu bringen. So wurde kurzerhand der Bastelkeller zum Studio umgebaut. Den Bauprozess und viele Details, die Martin Molin zu seiner Maschine erklärt, könnt ihr in seinem Youtube-Kanal ansehen.
Beitragsbild: Samuel Westergren